Gelangweilt von morgen: Zeitgenössische Fiktion
Am 27. Juni veranstaltet das Project Space Festival Führungen durch das Gelände und die Gebäude der ehemaligen Monopol-Spirituosenfabrik in Reinickendorf: halb verlassen, kürzlich aufgekauft von einem bekannten „mid-career biennale artists“, bald ein Kunst und Co-Living Space / Gentrifizierungsinkubator, „nur 20 Minuten vom Alexanderplatz, dem Galerieviertel und vielen trendigen Bars und Cafés“. Ich werde einer der Tour-Guides sein.
Ich bin gelangweilt von der Zukunft, renne vor der Vergangenheit davon; bin deprimiert davon eine ununterbrochene Nachrichtenberichterstattung zu verfolgen, aber gierig danach, über den ganzen Horror, der in der Welt passiert, noch im selben Moment Bescheid zu wissen, packe jedes schreckliche Ereignis in meine vorgefertigte politisch-ökonomisch-moralische Analyse, berechne, um dann eine angemessen missbilligende Facebook-Wuttirade zu posten (jetzt mit dynamisch anschaulichen Hintergründen, die am besten über die verstärkten Echos dieses Schallraums gehört werden sollten).
Kürzlich habe ich ein überaus kritisches Essay über 'Rasse' und zeitgenössische Musik gelesen, das eloquent all das ausdrückte, was ich fühle, und es mit entschiedener Zustimmung auf meiner Timeline geteilt. Aus Angst vor der Zukunft, habe ich es zehn Minuten später wieder gelöscht und dabei schon alle möglichen ausformulierten Diskussionen durchgespielt, an denen ich mich hätte beteiligen müssen: „Macht mich in der Kommentarleiste fertig“. Außerdem habe ich mir Sorgen gemacht, dass niemand es überhaupt lesen, liken, kommentieren würde.
Ich versuche in dieser gegenwärtigen Spannung zu leben. Ich versuche mir bewusst zu machen, was ich tue, mich in jedem prekären Moment auf jeden hyperventilierenden Atemzug zu konzentrieren. Debatten und Analysen in die materielle Wirklichkeit, offline, zu verschieben, hat sich als schwierig herausgestellt; denn der Augenkontakt oder gar die Aufmerksamkeit meiner Gesprächspartner*innen ist trügerisch, denn sie sind alle mit ihren eigenen Kämpfen beschäftigt, 280 Zeichen pro Anschlag, neue Salven, die in meine angestrebten Eloquenz eindringen und vibrieren. Es bringt allerdings nichts sich hier gegenseitig Schuld zuzuschieben. Wir haben alle unsere eigenen Kämpfe zu auszutragen.
Einer meiner Lieblingswitze überhaupt (hier der Link zum ganzen Listicle) ist ein Weihnachtswitz. Oder ein Buddhismuswitz, ich kann mich nicht entscheiden. Bitte seid nachsichtig…
Q. Was hat Buddha an Weihnachten gesagt?
A. Die Vergangenheit? Vergiss die Vergangenheit, sie lässt sich nicht ändern. Die Zukunft? Vergiss die Zukunft, sie lässt sich nicht vorhersagen. Die Gegenwart? Vergiss das Präsent, denn ich hab‘ kein Geschenk für dich.
Wenn ich darüber nachdenke, passt der Witz eigentlich zum Geburtstag, Jubiläum, dem Valentinstag oder jedem Ereignis, an dem man sich etwas schenkt. Das macht’s aber nicht weniger lustig, oder?
Es gibt Gewinner*innen und Verlierer*innen der Gentrifizierung, genauso wie im „Contemporary Art Game“, „mid-career biennale artists“ und „market darlings“ sind wie die ersten Bitcoinspekulant*innen, die von Banken profitierten und sie sprengten, mit Bitcoins und in leerstehenden Häusern, in der gegenwärtigen Spannung, in den Vororten, geografisch und in unserer Vorstellung. Jede*r kann gewinnen. Zum Verlieren braucht es Bescheidenheit, Würde und Anstand.
Schiffshalter, auch „sucker fish“ genannt, sind kleine Fische, die sich an Haie, Schildkröten, Mantarochen, Wale und Seekühe heften. Sie entfernen Ektoparasiten und lose Hautschuppen ihrer Wirte und bekommen dafür Schutz und eine Mitfahrgelegenheit. Einst dachte man, dass sich Schiffshalter von den Essensresten ihrer Wirte ernährten, nun wurde allerdings bekannt, dass sie die Scheiße ihrer Wirte fressen. Tut euch keinen Zwang an, die Metapher auf andere Kontexte auszuweiten.
In einigen Kulturen in Ostafrika und Nordaustralien, benutzen die Leute Schiffshalter, um Schildkröten zu fangen. Sie binden eine Schnur um die Schwanzflosse und der Jäger / die Jägerin hält das andere Ende der Schnur. Der Schiffshalter wird ins Wasser gesetzt und folgt seinem Instinkt, eine der Schildkröten aufzusuchen, die bekanntlich in der Gegend herumschwimmen. Dieser Nutznießer von Fisch hängt sich an die erste Schildkröte, die er sieht und die starke Hand der Metapher, die das andere Ende der Schnur hält, holt sich beide.
Was bedeutet es, wenn das Project Space Festival, Künstler*innen einlädt, um Führungen durch unsere gegenwärtige Beziehung zu einem symbiotischen Wirtskörper / einen gespannt, gefräßigen Zukunftsleviathan, zu geben? Wir sind das Kleingedruckte, performen nicht-künstlerische Handlungen, ohne abgetrennte nicht-künstlerische Körper, Einkommen und Klassenbewusstsein; diese Arbeit kann nicht von Ökonomie getrennt werden. Ich habe keine Antworten darauf und werde wahrscheinlich auch keine haben, wenn es vorbei ist, weil ich mir nur die angespannte Zukunft vorstellen kann, nur noch eine Frage: „Sind wir der Köder oder der Haken?“
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Photo Credits:
Ausflug zum Monopol. von Rishin Singh.
Text von:
Rishin Singh ist Künstler und Musiker und lebt in Berlin. Er hat ein kompliziertes Verhältnis zu Sprache. www.rishinsingh.com