Çilingir Sofrası

Çilingir Sofrası by Pose at Hallo Machen.
Çilingir Sofrası by Pose at Hallo Machen.

Im Inneren: Dicke, feuchte Luft, kein Lüftchen, Dämmerung, ein Projektor glüht. Kaltes Bier, eisgekühlter Raki. Durch die Fenster: Sonne, ausgeatmeter Rauch, früher Abend, die offene Stadt. Das Essen ist umsonst, die Getränke günstig. Lass uns bleiben.

Lasst uns mit den Zahlen beginnen. Larissa und Öykü sind aus Istanbul gekommen. Sie haben ein Buch mitgebracht und sie haben Daten mitgebracht. An der Wand ein Diagramm. Tausende haben die Türkei in den letzten Jahren verlassen. Die Meisten kamen nach Deutschland. Die Meisten nach Berlin. Die Meisten zwischen 25 und 29. „Und dann wurde uns klar: Das sind wir!“ Die Rechnung ist einfach. Einzelne Schicksale. Lass uns für einen Moment innehalten.

Ein Raum voller Leute, viele von Ihnen geben den Zahlen Gesichter. Türkyeli in Deutschland. Sie kamen an, während die Türkei von gescheiterten Protesten zu einem Bürgerkrieg, zur Verfolgung von Akademiker*innen, zu einem Putsch, zur Verfolgung von jedem und jeder, zu einer Wirtschaftskrise überging. Viele Gründe wegzugehen. Öykü und Larissa sind geblieben. Aber heute kamen sie zu Besuch, um zu diskutieren. Should I stay or should I go? Kaltes Bier, eisgekühlter Raki. Lass uns reden.

Drei Künstler*innen, die in Berlin leben und arbeiten, teilen ihre Geschichten. Sie scheinen sich in einer Schwebe zu befinden. Ohne wirklich zu wissen, was sie wollen, aber entschieden in dem, was sie nicht wollen. If I go there will be trouble, if I stay there will be double… Eine*r der Sprecher*innen fragt: „Sind wir eine Diaspora? Sind wir gezwungen wegzuziehen?“ Keine*r will antworten. Lass uns Pause machen. Der Abend nähert sich dem Ende. Rauch füllt unsere Lungen, wir bestellen noch eine Runde.

Vielleicht liegt es an der Hitze, vielleicht an den Getränken, aber die Geschichten beginnen ineinanderzufließen. Die Geister der jüngsten Vergangenheit der Türkei wurden heraufbeschworen. Gezi, die Säuberungsaktionen, die Petition. Namen und Geschichten, die jede*r hier im Raum schon oft, in vielen Variationen gehört hat. Doch niemand ist gelangweilt oder verärgert. Eine Gemeinschaft, die mit sich selbst kommuniziert. Bei diesem Abend geht es nicht um Informationen, sondern um Rituale. Die Intimität, der bekenntnishafte Ton, wie in einem AA-Treffen für Türkesüchtige. „Mein Name ist X und meine Geschichte ist…“ Naja. Ein AA-Treffen, das von Yeni Raki gesponsert wird.

Lass uns Pause machen. Lass uns Rauchen, lass uns atmen, lass uns noch eine Runde bestellen.

Vielleicht liegt es an der Hitze, vielleicht an den Getränken, aber von Anfang an herrscht eine milde Erschöpfung im Raum, eine Art kollektive Benommenheit, die uns einhüllt, die Gedanken abstumpfen lässt und kritische Reflexion aussetzt. Zwei Mal kommt so etwas wie eine Kontroverse hoch: Ist der*die Migrantenkünstler*in dazu verdammt erfolgreich zu sein? Ist Deutschland dazu verdammt, rassistisch zu sein? Zwei Mal scheint sich eine Art Generationenkonflikt zu zeigen: Junge Leute fühlen sich unter Druck gesetzt, ausgeschlossen. Ein paar weniger junge Leute sagen, dass alles nicht so schlimm sei. Zwei Mal beginnt keine wirkliche Diskussion. Leicht frustrierend, verschwendetes Potential. Sollen wir nicht lieber Pause machen?

Peter Handke hat einmal über diese einzigartige Müdigkeit geschrieben, eine Gemeinschaft der Erschöpften. Arbeiter*innen, die in Pendlerzügen schlafen, Köpfe auf Schultern, umhüllt von geteilter Schläfrigkeit, jede*r in seinem oder ihrem eigenen Traum, alle gemeinsam. Die Türkei macht uns fertig. Deutschland macht uns fertig. Also ist es gut manchmal zusammen zu sein, dösend.

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Photo Credits: Billie Sara Clarken (2019)

Text von: Nino Klingler arbeitet in einem Büro, schreibt manchmal übers Kino und macht Filme, aber niemals allein.