ENTMÄCHTIGE DICH!
Bei dem Mobilen Menü der Projektinitiative stay hungry hörte ich das erste Mal von den Trobriand-Inseln und ihren Bewohner*innen, in deren Gesellschaften es traditionell verpönt ist, Hunger zu zeigen und Essen zu genießen bzw. sich lange mit der Nahrungsaufnahme aufzuhalten. Indes gilt es im Westen als besonders bewundernswert, genussvoll zu essen und gleichzeitig diszipliniert ein Maß zu halten. Ich weiß, dass manche Menschen denken, ich könne kein Maß halten, ich könne meinen Hunger nicht kontrollieren.
So sieht Fruchtbarkeit aus: Fette Schenkel, fette Hüften, fetter Arsch – mein waist-to-hip Ratio ist 0,64 d.h. meine Hüfte ist fast doppelt so breit wie meine Taille und scheint damit für meine Außenwelt auszudrücken, dass da ein Baby rein muss. Doch ich habe mich dagegen entschieden Mutter zu werden.
Als ich feststellte, trotz Spirale schwanger geworden zu sein, riet mir der ärztliche Bereitschaftsdienst, mich in eine Notaufnahme zu begeben, um eine Eileiterschwangerschaft auszuschließen. Ich lief in das Virchow-Klinikum in Wedding, das um 1900 in einer Pavillonbauweise hochgezogen wurde. Nachts, zwischen den hell erleuchteten Eingängen, fühlte ich mich alleine, aber früher entsprach die Architektur dem Autonomiebedürfnis der Chefärzt*innen. (1)
Autonomie, Selbstbestimmung oder Handlungsmacht. Diese Worte klangen für mich viele Jahre uneingeschränkt positiv. Genauso ging es mir mit dem Begriff des „Empowerments“ (Selbstermächtigung). Doch ist Selbstermächtigung etwas anderes als eine Form des Buhlens um Herrschaft? Das Selbst zu beherrschen ist das Gegenteil der Vorstellung des unkontrollierten, unersättlichen Ichs und trotzdem existieren sie in Einklang miteinander: Im neoliberalen Anerkennungsdrang, dem Hungrigsein nach Selbstverwirklichung oder, was noch viel perfider ist: der Hoffnung, die gesellschaftlichen Verhältnisse beeinflussen zu können.
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Als ich den 29 Projektinitiativen einen Fragebogen zum Thema Barrierefreiheit schickte, erhielt ich neun Antworten. Zunächst von den queerfeministisch ausgerichteten, von Frauen* betriebenen Projektinitiativen. Ich erinnere mich, wie wenig überrascht ich davon war, dass diese Initiativen so besonders gewissenhafte Antworten zurückgeschrieben hatten. Das Personal, dem ich in der Notaufnahme begegnet war, war ausschließlich weiblich. Sie arbeiteten leise, sie arbeiteten nachts.
Auch wenn sich unsere Lebenserfahrungen stark unterscheiden, kenne ich es, Arbeit zu verrichten, die niemand sieht, bis in die lange Nacht hinein eine Hilfe zu sein und (Er-)Schaffen zu wollen. Ich bin keine Mutter geworden und trotzdem bin ich Teil eines verworrenen Geschlecht-/Gesellschaft-Verhältnisses geblieben, indem das Helfen und Schaffen von freiwilligen Abhängigkeitsverhältnissen weiterhin als weiblich und somit minderwertig betrachtet wird.
Deshalb möchte ich vorschlagen neben Empowerment, also dem Kampf mit der Macht um Macht, auch die Momente der (Selbst-)Entmächtigung zu denken, um neue Regeln für eine jenseits von Machtbeziehungen strukturierte Gesellschaft zu denken. Mutterschaft abzulehnen bedeutet für mich keineswegs sich nicht als Teil von Beziehungsgeflechten zu verstehen oder das Nicht-Zulassen von Abhängigkeiten, es heißt lediglich sich für einige bewusst zu entscheiden. Für die 29 Projekträume, die dieses Jahr am Project Space Festival Berlin teilgenommen haben, hieß (Selbst-)Entmächtigung möglicherweise das Zulassen von Nicht-Souveränität durch das Verlassen des eigenen Territoriums; Entgegen eines Autonomiebedürfnisses und im Sinne eines Hungrig-Bleibens.
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Referenzen:
(1) Wikipedia-Eintrag zum Pavillonstil: Stilmerkmale und Hintergründe.
Photo credits:
Stephan Zandt, Yams, aesthetics of food and the ideal of a fulfilled life or: How to solve the problem of appetite, Vortrag beim Mobile Menu #09 – Digestive Matters, 2019, Weichselplatz, Berlin Neukölln, eingeladen durch die nomadische Projektrauminitiative stay hungry.
COVEN Berlins für das PSF Berlin 2019: PROBAND-WERDEN. Foto: Billie Sara Clarken.
Ein Blick auf den Spielplatz des gynäkologischen Pavillons des Virchow-Krankenhauses.
Text von:
Amelie Jakubek ist Künstlerin und Organisatorin mit einem Hintergrund in Bildender Kunst und Soziologie. Sie nutzt künstlerische und nicht-künstlerische Mittel, um die Beziehungen zwischen Einzelpersonen und kollektiven/r Geschichte/n, Strukturen und Verhaltensweisen zu verstehen. Sie arbeitet in Kollektiven, in Bildungskontexten, Kunstinstitutionen, im Verlagswesen und mit filmischen Ausdrucksweisen. Für das PSF 2019 kollaboriert sie mit dem Kreuzberg Pavillon darin, das zu koordinieren, was getan werden muss.